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Gefängnis der Hölle

Gefängnis der Hölle

Steckte man während der Tage eines Charles Dickens tief in Schulden, so konnte es passieren, dass man, wie es der Autor in seinem Werk Little Dorrit und Antonia Hodgson in Das Teufelsloch beschreiben, in das berüchtigte Gefängnis inhaftiert werden.

Am südlichen Ende der Borough High Street, weitab der London Bridge und des belebten Marktes, liegt eine schmale Gasse. Auf einer Seite verläuft eine hohe dunkle Mauer. Eine kleine Gedenktafel erinnert daran, dass dies die letzten Reste des berüchtigten Marshalsea-Gefängnisses sind. Weitaus weniger bekannt ist die Tatsache, dass das Gefängnis nur für ungefähr 40 Jahre von Anfang der 1800er Jahre an dieser Stelle existierte, bis es 1842 geschlossen wurde. Mindestens 400 Jahre zuvor lag es ein paar Straßen weiter nördlich. Tausende kamen dort ums Leben. 1729 war es die Kulisse für einen nationalen Skandal, welcher daraus resultierte, dass ein Oberaufseher wegen Mordes vor Gericht stand. Im November 1728 geriet der junge Architekt Robert Castell in finanzielle Schwierigkeiten. In den Kerker geworfen wurde er gezwungen, sich nicht nur die Zelle, sondern auch das Bett mit einem Mann, der an Pocken erkrankt war, zu teilen. Seine Bitte um Barmherzigkeit wurde ignoriert. Er starb innerhalb eines Monats. Castells Geschichte war für die Allgemeinheit schockierend. London – nun zur weltweit größten Stadt aufgestiegen – litt immer noch unter den Auswirkungen des ersten großen Konjunkturabsturzes, der South Sea Bubble von 1720. Tausende lebten von Schulden auf Messers Schneide. Die Gefängnisse waren vollgestopft, die Bedingungen erbärmlich, die Wächter korrupt. Da kam es auf einen weiteren Toten nicht an. Jedoch war Castell zufällig ein enger Freund von James Oglethorpe, Parlamentsabgeordneter von Haslemere. Entsetzt durch den Tod seines Freundes überzeugte Oglethorpe das Parlament, um eine Untersuchung der Zustände in Englands Gefängnissen durchzuführen. Im Frühjahr 1729 betrat er zum ersten Mal das Marshalsea. Er fand ein Gefängnis vor, welches in zwei Hälften geteilt war. Etwa ein Acre (ca. 4o47 m2) groß wurde das Marshalsea von einer hohen Mauer über den gepflasterten Hof aufgeteilt. Die zwei Seiten waren als Master’s Site und Common Site bekannt. Es war möglich, zu überleben und sogar auf der Seite des Masters Erfolg zu haben. Gefangene führten ihre eigenen Geschäfte – ein Kaffeehaus, eine Gemischtwarenhandlung, eine Steakhaus, ein Friseurgeschäft. Es gab sogar eine Taverne.

John Grano, ein talentierter Musiker, der in Händels Orchester gespielt hatte, schrieb über seine Erfahrungen auf der »Master«-Seite zwischen 1728/29 ein Tagebuch. Er hatte eine erbärmliche Zeit, aber seine größte Beanstandung lag darin, dass sie sich von Zeit zu Zeit zu dritt ein Bett teilen mussten, da sein Zellengenosse eine »Dame aus der Stadt« in das Gefängnis geschmuggelt hatte.

Auf der Common Site konnte man sich glücklich schätzen, lebendig herauszukommen. Grano besuchte diese nur einmal, kehrte erschüttert zurück und schrieb nur eine Zeile in sein Tagebuch: »Ich dachte, sie würden mich umbringen.«

Dafür zu sorgen, sich auf der richtigen Seite der Mauer zu befinden, war eine Frage um Leben und Tod. Die Menschen waren bereit, alles zu opfern, um bleiben zu können. William Acton wusste dies und nutzte seien Gefangenen gnadenlos aus. Wenn ein Gefangener in Ketten vor dem Torhaus ankam, wurde er von Acton taxiert. Hatten sie genügend Mittel für die Master’s Site? Schuldner waren arm, natürlich, aber einige konnten auf die Hilfe von Freunden und der Familie bauen. Sie konnten möglicherweise ihre Besitztümer verpfänden oder ihre Arbeit aus dem Gefängnis heraus fortsetzen. Acton wusste, dass er ihnen den letzten Viertelpenny auspressen konnte, sobald sie unter seiner Herrschaft standen. Auf der Master’s Site kostete alles Geld – und alles floss in Actons Taschen zurück.

Nachdem die Gefangenen angekommen waren, bezahlten sie dafür, dass ihre Ketten entfernt wurden. Die Miete für die Zelle musste beglichen, Essen und Trinken zu überhöhten Preisen gekauft werden. Bettwäsche und Wäschewaschen kosteten extra. Starben sie im Gefängnis, musste die Familie dafür bezahlen, damit der Leichnam freigegeben wurde. Warum beschwerten sich die Menschen nicht über eine solche Erpressung? Acton war kein Mensch, der sich drückte. Als ein charismatischer Tyrann nannte er das Gefängnis seine »Burg« und marschierte im Hof mit einer Peitsche in der Hand auf und ab. Aber die Angst vor der Common Site war sogar größer als die Angst vor einer Tracht Prügel. Jeden Samstag öffnete Acton sein »schwarzes Buch«, und die Gefangenen standen Schlange, um ihren Zins an ihn zu entrichten. Konnte man nicht zahlen, wurde man einfach über die Mauer auf die andere Seite geworfen. Dort vegetierten 30 bis 50 Häftlinge in einer Zelle, während andere Zellen absichtlich leer gelassen wurden. Jede Nacht hörten die wenigen Glücklichen auf der Master’s Site die herzzerreißenden Schreie um Gnade. Die Bedingungen waren nicht nur unangenehm – sie waren tödlich. Die Menschen starben zu Hunderten vor Erstickung, Fieber und Hunger.

Oglethorps Bericht erklärte dies: »Kaum ein Tag verging ohne einen Toten, und mit dem Voranschreiten des Frühjahres starben in der Regel nicht weniger als acht oder zehn innerhalb von 24 Stunden.« Hunger war sicherlich der schlimmste Tod, da er vermeidbar gewesen wäre. In jenen Jahren gab es keinen Sozialstaat, jedoch wohltätige Stiftungen und Hinterlassenschaften. Pro Jahr flossen rund 115 Pfund – bei Weitem genug, um auch Essen für alle Gefangene der Common Site zur Verfügung zu stellen. Doch Acton stahl alles.

Warum haben sich die Gefangenen nicht zur Wehr gesetzt? Sie taten es ziemlich regelmäßig. Aber die circa 300 von Hunger geschwächten Gefangenen waren den wohlgenährten und gut bewaffneten Aufsehern Actons nicht gewachsen. Die Strafe für Rebellion war entsetzlich. Obwohl Folter in Großbritannien seit fast einem Jahrhundert verboten worden war, behielt Acton eine grausige Sammlung von Folterinstrumenten, welche er im Torhaus aufgehängt Neuankömmlingen zur Begrüßung zeigte. Später behauptete er, dass dies nur eine Ausstellung von interessanten historischen Artefakten gewesen sei. Oglethorpes Untersuchung brachte jedoch eine anderslautende Geschichte ans Tageslicht. Gefangenen wurde eine eiserne Schädelkappe über den Kopf gestülpt, die Schrauben solange fest angezogen, bis dem Opfer Blut aus den Ohren und dem Mund spritzte. Männer wurden in »das Loch« gesperrt – wie ein Sarg geformter, winziger Raum. Andere wurden an die Wand einer Stahlkammer gekettet, wo die Leichen aufbewahrt wurden und die Ratten sich an ihnen labten. Als die Kommission ihrer Bericht vorlegte, war das Parlament schockiert. Für die meisten Schuldner wurde eine Amnestie verkündet. Darunter befanden sich einige, die bereits vor Jahren die Schuld gegenüber ihren Gläubigern bezahlt hatten, jedoch aufgrund der mörderischen Gefängnisgebühren noch weiter hinter Gittern bleiben mussten. Es traf nur vorübergehend eine Verbesserung der Situation ein. Innerhalb weniger Monate waren die Schuldgefängnisse wieder voll.

Im August 1729 wurde Acton wegen Mordes an vier Gefangenen vor Gericht gestellt. Die Beweise waren vernichtend, aber es gab viele, die von Actons äußerst profitablem Regime begünstigt worden waren. Sie stellten sich zu seiner Verteidigung als Zeugen zur Verfügung. Das Gericht befand ihn für nicht schuldig. Die Führung eines Gefängnisses, welche auf Gewinn ausgerichtet ist, läuft immer auf die Gefahr der Bestechung hin. Und Acton war durchaus nicht einzigartig.

Es ist immer noch schockierend, an die Hunderte von Männern und Frauen zu denken, die starben, um zu helfen, seine Taschen zu füllen. Vielleicht ist es im Angesicht der schrecklichen Dinge besser, keinen einzigen Stein vom ursprünglichen Marshalsea-Gefängnis auf dem anderen zu belassen. Denn nicht immer heilt die Zeit Wunden.

Quelle:

(wb)