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Julia Vogel: Fuchsgold

Julia Vogel: Fuchsgold

Jeder, der ein fantastisches Werk zu Papier bringt, hat seine eigene Vorstellung darüber, wo und wann er/sie diese im Multiversum der Möglichkeiten platziert. Krynn und Athas zum Beispiel sind andere Welten. Toril ist ebenfalls eine andere Welt, aber eine, die vor langer Zeit mit unserer eigenen Erde durch magische Tore oder ähnliche Vorrichtungen verbunden war und uns mit fantastischen Kreaturen und Magie der Vergessenen Reiche konfrontierte. Tolkiens Mittelerde und Robert E. Howards Hyboria versinnbildlichen eine »Erde vor langer Zeit«, eine Zeit viele Jahrtausende vor dem Beginn der Geschichtsschreibung, in der es Königreiche und untergegangene Länder gab. Und wie verhält es sich mit dem äußersten Nordrand der Welt? In einem Brief schrieb Christoph Kolumbus während einer Fahrt von Lissabon über Flandern und England bis in den hohen Norden: » … ich segelte im Jahre 1470 und 7 noch hundert Meilen weiter als die Insel Thiele liegt. Die Griechen sprechen von Thule als jenem Land, das am äußersten Nordrand der Welt liegt und nur über das Meer der Finsternis zu erreichen ist. Davon berichtete Pytheas von Massilia, ein griechischer Seefahrer und Geograf, schon im 4. Jahrhundert vor Christus. Sechs Tagesfahrten nördlich von Britannien liegt mitten im zugefrorenen Meer taghell und nachtlos das Land Thule.«
Demzufolge hat Thule einmal auf der Erde existiert und ging im Verlauf der Zeit verloren. Wenn Thule ein Teil einer vergessenen Geschichte unserer Welt ist, dann folgt natürlich die Frage: Wann hat es Thule gegeben und wo lag es? Für die alten Griechen war Thule ein geheimnisvolles Land weit im Norden. Auch wenn wir uns ein wenig von den amüsanten Pseudowissenschaftsspekulationen über polare oder Erdkrustenverschiebungen mit seltsamen Anomalien wie gefundene gefrorene Mammuts mit Butterblumen in ihren Mägen mischen, können wir uns nur ansatzweise vorstellen, dass vielleicht die Weiten der Arktis während der Warmzeiten des Eiszeitalters gemäßigt und durch menschliche Zivilisation bewohnt waren. Doch wer weiß das genau.

Was hat es mit dem mystischen Ort auf sich? Dieser Frage geht die Autorin Julia Vogel in ihrer Novelle Fuchsgold nach, indem sie den Leser zusammen mit einer Expedition auf die Suche schickt.

Das Buch

Julia Vogel
Teezeitgeschichten Band 10
Fuchsgold

Phantastik, Novelle, Paperback, TextLustVerlag Ettlingen, November 2013, 60 Seiten, 4,95 Euro, ISBN 9783943295870

Kurzinhalt:
Seit Jahrtausenden suchen Forscher und Abenteurer in der Arktis den nördlichsten Punkt der Erde. In der ewigen Kälte hoffen sie den Ort zu finden, den die Geschichtsschreiber der Antike als äußersten Nordrand der Welt bezeichneten. Ende der siebziger Jahre des Zwanzigsten Jahrhunderts begibt sich eine kleine Expedition auf die Suche nach diesem mystischen Ort, aber nur einer der Teilnehmer kehrt zurück.

Die Autorin

1975 in der früheren Arbeiterstadt Delmenhorst geboren, versteht Julia Vogel das Schreiben als solides Handwerk.
Inspiriert von den Meistern der phantastischen Literatur, schreibt sie seit 2008 unheimliche Kurzgeschichten über das Meer, seinen Mythen und der nordischen Kultur.
Einzelne Kurzgeschichten wurden bereits in Online-Magazinen und Anthologien veröffentlicht.

Mehr unter: www.phantastischer-norden.de
Ein ausführliches Interview gibt es auf  www.literra.info.

Veröffentlichungen

  • Prager Zeitreise um 1900 in: PragMagisch (Anthologie). Schneider, Sina/Ginsberg, Theresa  (Hrsg.) Verlag p.machinery
  • Land unter in: Onlinemagazin Dornendickicht im Wortkuss-Verlag. April-Ausgabe.
  • Elmsfeuer in: Onlinemagazin Geisterspiegel. 30. August 2012.
  • Griechische Erinnerung in: Kindheit ist (k)ein Kinderspiel. Anthologie der Facebook-Gruppe »Portal für Autoren, Leser, Blogger, Grafiker«
  • Fuchsgold in: TextLustVerlag 2013

Leseprobe

»Das Grauwetter hält die Temperatur unten!«, rief der Kapitän mit einem letzten Blick auf das Thermometer, als ich mit den übrigen Crewmitgliedern in das schwankende Schlauchboot stieg. »Zwischen minus zehn und minus fünfzehn Grad, das sind gute Voraussetzungen, um eine Insel zu erkunden.«

Er bestieg das Boot als Letzter und stieß es von der KANOSAK ab, einem stahlverstärkten Walfänger, vierzig Fuß lang und mit einem hundertachtzig PS starken Dieselmotor. Noch immer klang dessen rhythmisches Gestampfe in meinen Ohren, während wir vorsichtig durch das Labyrinth wirrer Eiskanäle auf den Küstenstreifen zuhielten. Unruhig rutschte ich auf der Holzbank hin und her; das kribbelige Gefühl in den Beinen war die Vorfreude darauf, nach vierundzwanzig Tagen auf See endlich wieder festen Boden unter den Füßen zu spüren. Nach all den öden Stunden auf dem Schiff, wo das Leben auf wenige Quadratmeter zusammenschrumpfte, lechzten Körper und Geist nach Veränderung. Tagtäglich war ich umgeben von den Geräuschen und Gerüchen des Schiffes und der Menschen, die es bedienten. Aus dem Maschinenraum drangen die metallischen Ausdünstungen nach Diesel und Schmieröl, im Wohnbereich stank es nach ungewaschenen Körpern und feuchtmuffigen Wollsocken. In dieser Zeit schärfte sich meine Wahrnehmung, und je tiefer die KANOSAK in die Stille vordrang, desto stärker wurden meine Gefühle für die polare Landschaft, die einen scharfen Kontrast zu der Enge und Schäbigkeit darstellte.

Wie jeden Fotografen faszinierte auch mich das Wechselspiel der Farben und des Lichts. An klaren Tagen starrte ich stundenlang durch die Linse meiner Kamera, um die Fluken der Wale in das eisengraue Polarmeer tauchen zu sehen. Ich beobachtete Eisberge, die sich grimmig durch den Ozean schoben, oder schoss Bilder von den wendigen Flugmanövern einiger Raubmöwen. An diesem Ort der Extreme, wo die geneigte Erdachse eine Hälfte des Jahres in finstere Nacht tauchte und die andere in taghelles Licht, entdeckte ich im Sucher Dinge, die nur für mich sichtbar waren und die sich Sekunden später auf lichtempfindlichem Polyester wiederfanden.

An diesem Tag sank der Himmel bleischwer auf uns herab, das graue Meer ging in einen ebenso grauen Horizont über, und Fotografieren wäre reine Zeitverschwendung gewesen.

Als wir schließlich den Strand erreichten und ich aus dem Schlauchboot kroch, konnte ich mich kaum auf den Beinen halten. Es fühlte sich merkwürdig an, nach all den Tagen wieder harten Untergrund zu spüren, fast so, als bestünden meine Knie aus Gelatine. Schwankend wie ein Kleinkind, das gerade laufen lernt, klammerte ich mich an die Reling des Gummiboots, um nicht mit dem Gesicht voran auf den Geröllstrand zu fallen. Ein Blick zur Seite zeigte mir, dass es den anderen aus der Crew nicht besser erging, nur der Kapitän machte sich unverzüglich daran, das Beiboot zu vertäuen. Mit gezielten Schlägen rammte er den Eisenpflock in den Boden, strahlenförmige Risse fraßen sich in das Gestein, und die Erschütterungen pochten dumpf bis in meine Lenden hinauf.

Vorsichtig nahm ich die Hand vom Rumpf und zog den Reißverschluss meines Parkas hoch. Die Kälte kroch mir in jede Pore, und trotz der gefütterten Schneehosen und den dicken Handschuhen war ich bald so durchgefroren, dass ich nackt im Nebel zu stehen glaubte. Fröstelnd griff ich nach meiner Kameraausrüstung und suchte nach markanten Punkten in der Landschaft. Der rätselhafte Dunst schob sich über den Boden, ließ die Umgebung ohne Kontrast und ohne Leben erscheinen, ähnlich einem Lichtbild, das zu lange in der Sonne gelegen hatte. Das Wasser schwappt träge wie Öl an den schmalen Strand, der vor Nässe glänzte, als habe sich die Insel erst vor Kurzem aus dem Meer erhoben. In weiter Ferne meinte ich, das Geschrei von Vögeln zu hören, die sich irgendwo im Nebel verbargen. Unter diesen Bedingungen war es unmöglich, die Ausmaße der Insel einzuschätzen, aber der Norweger schien fest entschlossen, sein Vorhaben  umzusetzen, denn er rammte den Pflock mit einer Verbissenheit in den Boden, als wolle er jedem von uns klarmachen, dass ein Entkommen von nun an zwecklos sei.

Während ich ihm half, das Schlauchboot zu vertäuen, hievte Maik die übrigen Koffer mit den Messgeräten auf den Strand. »Das ist mittlerweile der dritte Steinhaufen, auf dem wir stehen«, keuchte er und trat mit dem Fuß auf, als sei ihm die Festigkeit des Untergrunds nicht geheuer. Seine Stimme drang gedämpft durch den grobmaschigen Wollschal, den er sich um das Gesicht gewickelt hatte. »Vermutlich ist das hier wieder eine Geröllbank, die zur Hälfte von Eis bedeckt ist. Ich habe dir gleich gesagt, dass wir so weit oben keine Landmasse finden werden.«

»Zuerst müssen wir Messungen durchführen«, erwiderte der Norweger und ließ das Werkzeug polternd in das Boot zurückfallen. »Vorher will ich keine Vermutungen hören.«

Neben Maik stand Anne, die sich fluchend die Arme um den Körper schlang. Ich stellte mir vor, wie sie mit beiden Händen ihre hennaroten Haare auf dem Rücken miteinander verwob, und es war offenkundig, dass sie fror. Ihre Lippen waren noch blasser als ihr Gesicht, das unter ihrer bunten, gestrickten Pudelmütze seltsam klein wirkte.

Der Norweger runzelte die Stirn, als sein Blick auf ihren apfelgrünen und viel zu dünnen Anorak fiel. »Hilf dem Alten!«, wies er sie an und wandte sich wieder seinen Metallkisten zu.

Anne ließ ihre Arme sinken und schlurfte vier Schritte auf den Maschinisten zu, der inmitten der Ausrüstungsgegenstände stand und stirnrunzelnd unser Treiben beobachtete. Seufzend legte sie ihm einen Arm um die Schultern und zog ihn an sich heran. »Komm Alterchen, der Käpt’n hat es eilig.«

»Lass mich!«, knurrte er. »Ich kann alleine gehen.« Dabei blickte er zur KANOSAK, deren Umrisse sich vage im Nebel abzeichneten. »Dieser Untergrund besteht aus losem Sand und Kies. Wenn der Anker nicht hält, könnte das Schiff auf Drift gehen.«

»Dann sollten wir uns beeilen«, bemerkte der Norweger mit einem seltsamen Gesichtsausdruck, den ich nicht deuten konnte.

Veröffentlichung der Leseprobe mit freundlicher Genehmigung der Autorin.

(wb)