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Der Welt-Detektiv Band 6

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Der Fackelzug

So sehr der Schmerz auf die Lider drückt,

so sehr mich der Gedanke an das Leben.

Wie lange hatte ich für diese zwei Zeilen schon gebraucht? Ich wusste es nicht, ein Blick zur Uhr, deren Sekundenzeiger mit einem höhnischen Klickeklack von Sekunde zu Sekunde schnellte, wollte oder konnte mir keine Antwort geben.

Mann, reiß dich zusammen! Du bist Schriftsteller! Romane unter 300 Seiten schreibst du gar nicht erst und versagst bei diesen simplen Versen? Herzschmerz und Trauer zum Ausdruck bringen, das sollte doch wohl ein Klacks sein, versuchte ich mich anzufeuern. Doch so sehr ich auch auf das virtuelle Papier starrte, mir wollte einfach nichts Sinnvolles einfallen.

Ich reckte mich schließlich mit einem Seufzer und wollte gerade den Rechner herunterfahren, als das Telefon klingelte.

12.50 Uhr? Ohjee, hoffentlich ist es nicht die Schule, überlegte ich noch auf dem Weg in den Hausflur, um das Telefon an mich zu nehmen.

Unbekannte Nummer prangte mir in roten Digitallettern auf dem Display entgegen.

Kurz wiegte ich den kalten Plastikapparat, der leicht vibrierte und die Melodie von Miss Marple dudelte, in der Hand hin und her, ganz so, als wenn ich abschätzen wollte, ob es sich lohnte, dran zu gehen.

Ein kurzer Blick zur Tür, ein weiterer zur Uhr und noch einer auf das Gerät in meiner Hand … Während ich die Tür einen Spalt öffnete, drückte ich auf den Annahmeknopf.

 

»Ja bitte?«, krächzte ich in den Hörer.

»Hallo Schatz, wie geht es dir?«, fragte mich die besorgt klingende Stimme einer Frau. Meiner Frau! Viel eher gesagt meiner noch Frau!

»Es geht so«, antwortete ich knapp.

»Was machst du?«, fragte sie mit der gleichen Besorgnis in der Stimme wie schon zu Anfang.

»Ich schreibe! Bald kommt ja auch Ronny«, gab ich kurz angebunden zurück.

»Ronny? «, fragte sie und ihre Stimme klang hysterisch.

»Ja wer sonst? Müssen wir das wieder durchkauen? «, wollte ich von ihr wissen.

»Nein«, antwortete sie kleinlaut und es klang, als würde sie anfangen zu weinen.

»Wir sind heute Abend auf dem Fackelumzug!«, sagte ich kühl und legte auf.

 

So sehr ich auch diese Gespräche hasste, aber es war ja nun mal bei Scheidungskindern immer so eine Sache, und Ronny hatte sich für mich entschieden!

Wenn sie also vor dem Wochenende etwas von ihm haben wollte, konnte sie uns ja schließlich begleiten! Aber sehr wahrscheinlich würde sie nicht kommen.

Ich verwarf den Gedankengang und versuchte mich wieder auf meine Rede zu konzentrieren, die Rede, die ich schon seit Tagen schreiben wollte und an der ich bereits den ganzen Vormittag verzweifelte. Schwerfällig trabte ich mit dem Telefon in der Hand zurück.

Wieder im Arbeitszimmer stopfte ich mir eine Pfeife, setzte mich in meinen Computersessel und starrte erneut auf den Monitor um wenigstens noch eine dritte, eine vierte Zeile …

Das Klappen der Haustür lies mich herumfahren.

 

»Ronny«, rief ich verhalten später dann lauter. Er zog es jedoch vor, mich anzuschweigen.

Seit meine Frau und ich getrennt lebten, redete er nicht mehr sonderlich viel, selten, dass wir mehr als fünf oder sechs Sätze am Stück wechselten.

Gefrustet eilte ich in den Flur und rief »Sei bitte nicht böse. Hab vergessen, was zu essen zu machen. Weißt ja, die Schreiberei, wir essen etwas auf dem Fackelumzug nachher?!« das Treppenhaus hinauf.

Wiederum blieb er mir eine Antwort schuldig. Zeit, mich darüber aufzuregen, hatte ich nicht, schließlich brauchte ich die Rede bereits am folgenden Tag.

Die Tür hatte er auch offen gelassen, war nicht korrekt ins Schloss gefallen bei seiner Heimkehr. Mit einem leisen Seufzen schloss ich sie und überlegte einen Moment, die Treppe hinaufzugehen und Ronny zu fragen, was er denn an Hausaufgaben zu tun hätte, lies es aber bleiben.

»Sie dürfen das Kind nicht überfordern«, hatte die Ergotherapeutin, in derer Obhut er seit der Trennung war, gesagt.

 

Kaum merkte ich, wie die Zeit verflog, und noch weniger fiel mir etwas ein, was ich schreiben sollte.

»Verdammt! Schon 16.50 Uhr!«, entfuhr es mir, und meine Stimme klang, als wollte sie sich überschlagen.

»Notiz an mich selbst! Lass diese verdammten Selbstgespräche!« und musste laut lachen, als ich die letzten Worte aussprach.

Was folgte, war eigentlich wie immer. Ich sprintete wie ein aufgescheuchtes Huhn los und zog mir, sagen wir der Allgemeinheit angepasste Kleidung an, gefolgt von dem ersten Schrecken »Wo ist dein Portemonnaie?« und vom zweiten »Verdammt, wo sind schon wieder die Wagenschlüssel?«

Egal, die drei Kilometer zur Kirche im Ort, wo der Fackelzug beginnen sollte, würden wir auch zu Fuß erledigen können.

»Ronny? Wir müssen los, hast du deine Laterne?«, rief ich im Treppenhaus nach oben, während ich zeitgleich versuchte, mir die aus mir unersichtlichen Gründen wenig kooperative Jacke überzuwerfen.

»Ronnnnnniiiiiiy«, brüllte ich schließlich hinauf.

»Ist mir egal, wenn du meinst, du musst mich ignorieren!? Bitte sehr! Ich werde dorthin gehen und Spaß haben!«, setzte ich nach und ging hinaus.

Ich hasste es wie die Pest, aber ich war froh, dass er zu mir wollte, als er die Frage gestellt bekam. Dennoch! Warum ignorierte er mich die meiste Zeit?

 

Wenige Meter vor dem Haus hörte ich Ronnys Lachen. Er rief zweimal »Pahpah«, so wie er es immer tat, wenn er mich nerven … wollte er mich wirklich nerven? Denke eher ärgern wollte und versteckte sich hinter einem Gartenzaun, einem Torpfosten oder was auch immer unterwegs. Dieses Spiel trieb er nicht nur heute, das tat er eigentlich immer.

Meine Stimmung neigte sich zwar dem Nullpunkt zu, als wir die Kirche erreichten, aber ich war trotzdem froh, dort zu sein. Der Duft von Pommes, Bratwurst und diversen anderen leckeren Sachen lag in der Luft. Ein Pulk von Menschen, in dessen Stimmenwirrwarr man keine Einzelstimme wahrnehmen konnte.

 

»Ronny?«, fragte ich hinter mich. Aber er war wohl bereits in der Masse untergetaucht.

Gegen das Gemurmel an von geschätzten 150 Leuten schrie ich »Ich bin beim Bratwurststand, komm bitte auch dahin, ich bestelle schon mal was! Du hast sicher auch Hunger!«

Gesagt getan, ich drückte mich durch die Massen und ergatterte schließlich noch einen der heiß begehrten Stehplätze am Tresen des Bratwurststandes und bestellte zwei Würste und eine Portion Pommes mit Mayo. Meine Wurst hatte ich bereits alle und naschte die eine oder andere Fritte, aber von Ronny war keine Spur.

Genervt seufzte ich und stapelte Fritten und Wurst zusammen, sodass ich wenigstens eine Hand freihatte, um mich aus der Enge zu befreien und etwas abseits des Trubels nach Ronny Ausschau zu halten.

Weglaufen würde er nicht, das tat er nie. Er war aber ein Einzelgänger. Irgendwie fand ich nie einen Zugang zu ihm, gerade bei solchen Veranstaltungen zeigte sich das. Höchstens, wenn er Hunger hatte oder Geld brauchte, kam er an, sonst sah ich ihn zumeist nicht und wenn, dann eher zufällig.

Es machte keinen Sinn nach ihm zu suchen. Der Platz vor der Kirche füllte sich immer mehr mit Menschen. Kurzerhand aß ich seine Bratwurst, bevor sie ganz kalt war und die Fritten hinterher. Er würde sich schon melden, wenn er Hunger hätte! Ich würde ihm ein paar Euro geben und dann sollte er zusehen, wie er sich durch die Massen quetscht.

Kurz meinte ich, ihn hinter mir lachen zu hören, aber das konnte in der Masse auch wer anders gewesen sein. Sehr wahrscheinlich sogar war es wer anders.

Solche Veranstaltungen wie diese hasste ich eigentlich. Die Lokalprominenz, zu der ich zwangsläufig auch gehörte, buhlte um die Presse und die Bürger. Davon hielt ich jedoch nichts. Lieber hielt ich mich im Hintergrund und beobachtete die Menschen.

Durch gezieltes Beobachten erfuhr man ohnehin den neusten Klatsch! Wie etwa, dass sich Meyers, die sonst immer Arm in Arm unterwegs waren, nicht näher kamen als einen Meter, was in dem Gedränge schon erwähnenswert war. Bedeutete nichts anderes, als dass sie in der Realität angekommen oder einen deftigen Streit hatten.

 

Die Rückkopplung eines Mikrofons, das mehr als schlecht ausgesteuert war, und die Stimme des Pfarrers, die durch einen Lautsprecher, der an der Kirchentür befestigt war, ließen mich meine ethnologischen Studien abbrechen. Es ging los.

Ronny war noch immer nirgends zu sehen, was aber nichts Ungewöhnliches war. Und dass er keinen Hunger hatte, würde sich sicher mit einer oder gar zwei leeren Chipstüten, die ich beim Betten machen morgen unter seinem Bett finden würde, erklären.

Durch den plötzlich einsetzenden Regen lichteten sich die Reihen der Mitläufer doch immens aus, sodass ich wenigstens die Messdiener mit ihren Nachthemden, wie ich die Kleidchen nannte, und ihren Fackeln sehen konnte, wie sie tapfer am Anfang des Zuges voranstapften.

»Wo ist den Ronny?«, fragte ein zartes Stimmchen von rechts unten.

Ich beugte mich etwas herunter und erkannte Svenja, eine seiner Klassenkameradinnen.

»Oh hallo, der muss da irgendwo herumturnen, so wie immer«, sagte ich schmunzelnd und wollte gerade noch etwas nachsetzen, als die Mutter von Svenja aufgeschlossen hatte und sie fortriss.

»Das habe ich dir doch schon erklärt! So was fragt man nicht!«, schrie sie die Kleine an.

»Was hat die denn?«, murmelte ich und entsann mich, dass ich ja im Ort als schlechter Umgang galt.

JA, im Ort galt ich als von Grund auf schlechter Mensch. Es war den Dörflern, ohne jemanden beleidigen zu wollen, unheimlich, wie jemand, der den ganzen Tag zu Hause ist, genug Geld haben konnte, um mehrmals im Jahr in den Urlaub fahren zu können, eine Mittelklasse-Limousine besaß und darüber hinaus auch noch seine Kleidung bei einem Markenstore im Ort zu kaufen.

Ferner, und da hatten sie recht, war ich auch eine Art Hallodri.

 

Dem Vorfall wollte ich keine weitere Bedeutung beimessen! Dennoch trabte ich leicht wütend dem Fackelzug hinterher. Schließlich kamen wir wieder auf dem Kirchenvorplatz an.

Ronny konnte ich noch immer nicht sehen, auch dann nicht, als ich noch eine Bratwurst kaufte und damit wartete.

Der Pfarrer kam auf mich zu. Wie aus dem Nichts war er aufgetaucht. »Na, so ein Spaziergang macht hungrig, oder? Wie geht es Ihnen denn?«, fragte er mich in bester Sonntagsmessen-Tonlage.

»Ach naja, wie das eben so ist, wenn der Lütte weg ist …«, sagte ich mit einem gequälten Lächeln. Das, was ich nun nicht auch noch gebrauchen konnte, war jemand, der mich darüber aufklärte, dass Ronny eine vermeintlich schlechte Erziehung genossen hatte und dass dies so nicht ginge. Es stimmte zwar: Er hatte seinen eigenen Kopf, und vieles hatte ich schleifen lassen, aber dennoch war es kein schlechtes Kind!

Wiedererwarten nahm er einen fürsorglichen Gesichtsausdruck an und räusperte sich. Trotzdem wollte ich kein Risiko eingehen und sagte schnell: »Ich gehe ihn mal suchen! Sonst wird seine Wurst wieder kalt!« Und ging zügig in die Richtung, in der ich ihn vermutete.

Ich hörte den Pfarrer noch etwas sagen, konnte aber die Worte nicht ganz verstehen, ich wollte sie auch nicht verstehen.

 

»Ronny?«, rief ich etwas abseits und ließ meinen Blick wandern. So sehr ich mich auch anstrengte, ich fand ihn nirgends und auf mein Rufen reagierte er nicht.

»Sicher ist er bereits nach Haus gegangen«, murmelte ich, während ich die kalte und obendrein nasse Bratwurst aß.

Na der kann was erleben! Schnellen Schrittes ging ich nach Hause, die Haustür war nur angelehnt.

»Also wusste ich es doch!«, jubilierte ich.

Aber warum war kein Licht an? Einbrecher?

Plötzlich wich die Freude einer unbändigen Angst. Was würde mich drinnen erwarten?

Vorsichtig ging ich zur Tür, öffnete sie, trat hinein, so, als wäre ich der Einbrecher. An der Wand tastete ich nach dem Lichtschalter. Das Klicken des Schalters übertönte den fallenden Stein, der mir vom Herzen fiel, als ich in den unteren Räumen auf den ersten Blick nichts erkennen konnte, das nach Einbruch aussah.

Schnell hatte ich auch erkannt, dass kein Einbrecher im Untergeschoss war, die Treppe lief ich drei Stufen auf einmal nehmend hinauf und stand schließlich vor Ronnys Tür.

Sicher schlief er?

Mit pochendem Herzen öffnete ich seine Tür, schaltete das Licht an.

Er war nicht da! Sein Schlafanzug lag zusammengefaltet auf der Bettdecke, sein Ranzen stand auf dem Bürostuhl an seinem Schreibtisch, seine Ritterburg, die gerade im Belagerungszustand war. Zumindest schloss ich das aufgrund der Ritter ringsherum.

Wo war er bloß?

Panisch lief ich die Treppe wieder hinab und suchte das Telefon. Tausende Gedanken strömten auf mich ein. Sollte ich loslaufen, um ihn suchen? Aber er war doch schon alt genug, um sich, da er mich verloren hatte – was ja der Fall war – einem Erwachsenen anzuvertrauen, dass diese mich anriefen oder ihn nach Hause brachten. Er kannte doch beinahe jeden im Ort.

Polizei!

Das Telefon fand ich an meinem Arbeitsplatz, ich hob es auf und wollte die 110 wählen, als mein Blick auf einen Zeitungsartikel fiel, der halbherzig laminiert worden war.

Interessiert lies ich das Telefon sinken und nahm den Artikel in die Hand.

6-jähriger Sohn des örtlichen Bestsellerautors bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen! Die Familie weiß nicht, wie es weitergehen soll.

Mir kam wieder der Gedanke an die Rede. Ich setzte mich hin, machte den Rechner an und versuchte anzuknüpfen an die beiden Zeilen …

Copyright © 2010 by Oliver Wehse