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Tony Tanner – Agent der Weißen Väter 7.3

Die Hyleg-Schädel – Teil 3

Weil in diesem Moment Steele und Demonti hinter einer Stellwand hervorkamen, hatten sich Tonys Überlegungen erübrigt. Er lächelte entschuldigend, Lucille zog achselzuckend den Schuh ein, blieb aber ab jetzt in Tonys Nähe. Tatsächlich blieb sie ihm so nah, dass er ihre Schulter spürte. Auch als alle mit dem Aufzug zum Dachgarten fuhren, der ebenso langweilig und gesichtslos war wie die gesamte Inneneinrichtung.
Während Steele aufmerksam Demontis weitschweifigen Erklärungen lauschte und verständnisvoll nickte, spürte Tony, wie Lucilles Hand sich, nach einem Umweg über seinen Allerwertesten, um seine Hüfte schlang. Die Lage verlangte eine passende verbale Unterstützung und Tony entschied sich für ein männlich-knappes Lucille, ich liebe dich, weil ihm nichts Intelligenteres einfiel.
Bevor er den Mund öffnen konnte, stieß Lucilles Schrei wie ein Eisendorn in sein Ohr. Für einen Moment glaubte er, damit die vorauseilende Antwort auf sein Liebesgeständnis erhalten zu haben.
Erst als Lucille Da, ein Mann, im Gebüsch! rief, erfasste er die Situation.
Aller Augen schwenkten in die Richtung, die Lucilles Finger wies. Es raschelte hinter einem Gebüsch, dann floh eine Gestalt den Hang herunter, kam ins Straucheln, stürzte, raffte sich auf und hastete auf die Straße zu. Pudelmütze und Wuschelhaar reichten aus, um den Fremden zu identifizieren.
»Den kaufe ich mir«, zischte Steele. Er sprang vom Dachgarten und rutschte, eine Hand zur Stütze in den Hang gekrallt, herunter. Begleitet von einer Lawine aus Geröll und Erde stürzte er abwärts, rollte sich ab, sprang auf und warf sich sofort wieder auf die Erde. Schüsse krachten, unzweifelhaft eine Salve aus einem schweren MG, eine schnelle Abfolge von Explosionen, die sich zum Rattern eines uralten Fiat-Motors steigerten.
Steele sprang hoch, als würde er seinerseits durch eine Explosion hochgeschleudert, war mit wenigen Sätzen auf der Straße. Von der Seite raste ein Lieferwagen heran. Nur mit einem schnellen Sprung konnte sich Steele retten. Er war sofort wieder auf den Beinen, rannte hinter dem Wagen her und bekam den Außenspiegel zu packen. Einige Meter lang ließ sich Steele mitschleifen, dann kam eine Hand aus dem Seitenfenster, hämmerte auf ihn ein und er musste loslassen. Er stürzte auf den Asphalt, wurde vom eigenen Schwung mitgerissen, überschlug sich mehrmals. Die Hinterreifen berührten fast sein Gesicht.
Trotzdem kam Steele wieder hoch. Er schaute hinter dem knatternden Wagen her, dann stürzte er sich wie ein Kamikazeflieger zwischen die Büsche, die den Hang oberhalb der Altstadt bewucherten.
Das alles geschah so schnell, dass die anderen erst zur Besinnung kamen, als sich die Zweige hinter Steele geschlossen hatten.
»Wir danken ihnen, dass sie uns einen zweiten Termin gewähren«, sagte Tony zum Abschied zu Demonti.

Lucille ließ den strahlenden Sonnenschein ihres Lächelns auf Demontis blasierte Beleidigt-Gesichtslandschaft glänzen.
»Sie müssen das etwas seltsame Benehmen unseres Fotografen entschuldigen«, sagte sie mit einer sanften, tiefen Stimme, die beide Polkappen zum Schmelzen gebracht hätte, »er war vorher Kriegskorrespondent in Afrika.«
Zum Glück hatte Steele, ganz gegen seine sonstigen Gewohnheiten, den Wagen weder abgeschlossen noch den Zündschlüssel abgezogen. So konnte sich Tony Tanner auf den Fahrersitz fallen lassen, während Lucille Chaudieu das Gepäck auf die Rückbank warf und dann um den Wagen herum zur Beifahrertür sprang.
»Na los, doch, fahr endlich«, rief sie Tony zu.
»Ähh«, machte Tony und strampelte etwas hilflos mit den Beinen in der Luft. Wenn er sich streckte, konnte er mit den Schuhspitzen gerade noch die Pedale erreichen. Sitz und Lenkrad waren eindeutig auf die Körpermaße eines Steele eingestellt, und so kam sich Tony ein wenig vor wie ein Knabe, der sich heimlich in die Garage stiehlt, um in Papas Wagen Autofahren zu spielen.
»Dann stell doch den Sitz weiter nach vorn«, nörgelte Lucille ungeduldig und konnte sich selbst nicht daran hindern, typisch weibliche Lebensklugheit zu dokumentieren.
»Ihr Männer seid doch auch immer so unpraktisch!«
»Danke für den Hinweis«, fauchte Tony wütend, mit beiden Händen am Sitz fummelnd, »dann sag mir doch bitte auch, wo sich die be… Sitzverstellung befindet bei dieser ver… Sch…karre.«
Autos, das stellte Tony Tanner in dieser Situation mal wieder fest, waren eine Erfindung des Teufels und er passte nicht zu diesem Fortbewegungsmittel, weil schon einige Sekunden hinter dem Steuer seine Gesamtkenntnis an saftigen Flüchen zum Vorschein brachte.
Jetzt begann auch Lucille mit der Suche. Sie begann frohgemut, mit der weiblichen Gewissheit, dass Mann nicht richtig hinschauen kann und Frau den Hebel sofort findet. Sie hätte früher mit der Suche aufgehört, wenn sie nicht das maliziöse Grinsen des Herrn Tony Tanner registriert hätte.
»Die Position ist missverständlich«, griente Tony, als sie mit ihrem Kinn auf seinem Oberschenkel landete, weil ihre Finger irgendwo in den Tiefen des Fußraums nach der Verstellmöglichkeit forschten. »Demonti glotzt uns aus seiner Nobelbehausung immer noch nach und hat dich jetzt bestimmt in einem schlimmen Verdacht.«
»Hast du mal Garp und wie er die Welt sah im Kino gesehen?«, knirschte Lucille.
Tony hatte (zusammen mit Francine, aber das hielt er an dieser Stelle nicht für erwähnenswert).
»Da gibt es so eine Szene mit einem Auffahrunfall am Straßenrand … erinnere dich daran und du weißt, was dir passiert, wenn du jetzt nicht die Klappe hältst!«
»Ich bin beeindruckt. Aber überleg’s lieber, sozusagen im Eigeninteresse.«
»Eingebildet sind wir wohl heute gar nicht!«, ätzte Lucille.
»Man soll nicht mehr abbeißen, als man kauen kann, sagt meine Mutter immer!«
»Bit more than I could chew – habe auch Sinatra gehört. Keine Angst Tony, ich nehme den Mund selten zu voll.«
Damit war der Dialog beendet, denn Tony drehte auf Verdacht am Zündschlüssel. Daraufhin erschien vor ihm auf dem Armaturenbrett eine prachtvolle Ansammlung von Lichtern und Anzeigen, die selbst einen Jetpiloten verwirrt hätte. Nach längerer Betrachtung fand Tony einen Knopf, drückte darauf und elektrisch betrieben surrte sein Sitz nach vorne.
»Genial diese Deutschen«, kommentierte ein zufriedener Tony. »Man braucht nur was länger, um zu kapieren, was sie eigentlich meinen.«
Damit legte er den Gang ein und ruckelte mit aufheulendem Motor talwärts. Lucille machte es sich auf dem Nebensitz bequem.
»Ich bewundere dein technisches Verständnis«, schmeichelte sie.
»Oha, wir haben was gutzumachen? Britsch-französisches Tauwetter.«
»In einem deutschen Auto in Italien. Ich liebe Symbolik – wetten, dass das Radio aus Japan kommt?«, schmachtete Lucille. Ihre schlanken Finger fanden einen Spalt zwischen Tonys Kopf und der Nackenstütze und begannen seinen Hals zu kraulen.
Tony wartete eine Weile, bis er den schuldigen Protest anmeldete.
»Du lenkst mich ab.«
»Tu ich das?«
»Gewaltig.«
Lucille ließ sich dadurch nicht im geringsten beeindrucken. Sie rückte sich auf dem Sitz zurecht und hatte plötzlich ihr Knie über Tonys Bein. Ihre Nasenspitze strich sacht über Tonys Wange. Ihr warmer Atem schmeichelte seiner Haut wie ein Sommerwind.
»Du solltest dich mal wieder rasieren, mon cher ami!«
»Das sind die männlichen Hormone, die durch meinen wohlgestalteten Körper toben. Kaum lege ich den Rasierer beiseite, schon wächst der Bart nach.«
»Darf ich mal schauen, ob außer dem Bart auch Wachstum an anderen Stellen stattfindet?«
Lucille quiekte, weil Tony in diesem Moment dem Wagen unwillkürlich einen Schlenker aufzwang. Das tat nichts weiter zur Sache, weil er auf der unbefahrenen Straße wenig mehr als Schritttempo fuhr.
»Schnall dich an«, quetschte Tony zwischen den Zähnen hervor, »Steele braucht unsere Hilfe.«
»Und wer denkt an so ein hilfsbedürftiges kleines Hascherl wie mich?«, maulte Lucille, streckte beleidigt die Brust heraus und griff nach dem Sicherheitsgurt. Das zufriedene Lächeln, das um ihren schönen Mund spielte, konnte Tony nicht sehen, weil ihm gerade der Schweiß von der Stirn in die Augen lief und er sich voll auf die Straße konzentrierte, während der Tachozeiger langsam aus der Ruheposition in Richtung auf die 30 kroch.

***

Steele spürte den Untergrund unter seinen Sohlen. Weiche Erde und Geröll gaben unter seinem Gewicht nach, er verlor den Halt, wedelte mit den Armen und kippte nach vorne, in die Dunkelheit hinein.
Seine Aktion war völlig hirnrissig und doch unternahm er sie im vollsten Bewusstsein seines kommenden Erfolgs. Als er zusammengekrümmt auf die Straße gestürzt war und sich nur noch bemühen musste, der tödlichen Begegnung mit den Hinterreifen des Fiat-Transporters zu entgehen, hatte er die Stimme des Meisters Ki gehört. So deutlich an seinem Ohr und zwar an seinem Ohr, und nicht in seinem Kopf, als stünde der kleine Japaner neben ihm.
»Das Netz bedenke der Dinge«, sagte die Stimme des Meisters. »Das Muster sehe und wähle den Weg.«
Als befände sich Steele wieder in der Fechthalle auf Collesalvetti erkannte er den Schwertmeister, der mit seinen Händen etwas in die Luft zeichnete. Es waren Fäden, silbrig und fein wie Spinnweben an einem Oktobermorgen. Sie klebten an den Gegenständen, liefen durch den Raum, vereinten sich mit anderen Fäden und strebten weiter zum nächsten Gegenstand. In einer blitzartigen Vision verstand Steele, was das Gewebe des Kriegers war, von dem Ki immer so gerne gesprochen hatte. Er sah das Geflecht von Aktion und Reaktion, von Technik und Temperament und persönlichem Gefühl. Er erkannte, dass man das Muster entwirren musste, dann war man in der Lage, die Handlungen des Gegners zu durchschauen, bevor der Gegner selbst wusste, was er tun würde. Der Schüler des Meisters Ki konnte wie ein Seiltänzer über das Gewebe schreiten und den Gegner an einem Ort treffen, von dem der Gegner selbst noch nicht einmal wusste, dass er ihn passieren würde.
Diese Gewissheit hätte Steele nicht in Worte fassen können. Aber Worte zählten sowieso nicht. Was ihn vorwärtstrieb, war Wissen, das in jeder Zelle seines Körpers pulsierte. Der Geist des Kriegers vereinte sich mit Steeles Muskeln und Sehnen und machte den Mann zu einem Gefäß der Entschlossenheit.
Als ihn das Gleichgewicht verließ, krümmte sich Steele und schützte den Kopf mit beiden Armen. Er vergeudete keine Energie damit, sich gegen den Sturz zu stemmen, der unvermeidbar war. Er warf sich im Gegenteil in diesen Sturz, verbündete sich mit seinem Stolpern, machte die Schwerkraft zu seinem Gefährt. Wie eine Lawine, in einem Feld prasselnder Steine, kollernder Schollen, in einer Welle gelöster Erde rutschte Steele abwärts. Dornbüsche rissen seine Haut auf, Zweige peitschten ihn, Wurzeln und Stämme warfen sich ihm entgegen, er wurde in die Luft geschleudert, drehte sich, streckte die Beine und landete oberhalb einer massiven Steinmauer, die sich am Rand der Altstadt gegen den Hang stemmte. Für eine Sekunde zögerte Steele. Neben ihm rauschte das Geröll über die Mauer und prallte krachend in einen dunklen Hof. Mit einem Sprung setzte Steele über die Mauer und in die Dunkelheit. Der Sturz war länger als erwartet, jede Tausendstelsekunde in der Luft bedeutete mehr Tempo, mehr Wucht, einen brutaleren Aufprall.

Das kann gar nicht gut gehen, fuhr es Steele durch den Kopf.
Aber seine Füße trafen auf etwas Weiches, der Untergrund gab nach, Steele landete auf dem Hügel, den seine eigene Erdlawine gebildet hatte. Er rollte zur Seite ab, sprang auf und nahm Anlauf, bevor er sich überhaupt orientieren konnte.
Der Schwung genügte, um eine niedrige Mauer zu erreichen. Steeles Hand erwischte die Mauerkrone zwischen zwei Glasscherben, die eine gezackte Reihe bildeten. Seine Schuhspitzen schrappten über die Ziegel, dann war er oben und sprang mit einem weiten Satz in die Tiefe. Im Fallen nahm er den Hof war, in den er wie ein Fledermausmensch stürzte.
Im Schein einer starken Lampe schraubten drei Männer an einem Auto. Zwei standen an den Seiten, der dritte lag unter dem Wagen, von ihm waren nur die Beine zu sehen.
Steele landete mit einem Krachen auf dem breiten Kofferraum des US-Schlittens. Seine Füße sanken in dem Blech ein, der Wagen stieg mit einem schrillen Federquietschen mit der Motorhaube in die Luft. Der nächste Satz brachte Steele auf das Dach, er schepperte über den wankenden Grund, setzte auf die Motorhaube, der Wagen ging in die Knie und hob das Heck, dann war der Spuk vorbei und der Mann schleuderte sich in einen Torbogen und verschwand auf der Gasse.
Zurück blieb ein Hof, in dem zwei Männer mit offenen Mündern zum Torbogen starrten, ein dritter wie ein Rohrspatz schimpfte und mit den Beinen strampelte, ein Wagen heftig schwankte und ein Wackeldackel auf der Hutablage begeisterte Zustimmung zu alle dem nickte.
Mit fliegenden Schritten, die kaum den Boden zu berühren schienen, rannte Steele die Gasse herunter. Als er an einer Quergasse vorbeihuschte, schlug ihm von links das Dröhnen eines Fiat-Motors ins Ohr. Der Fiat befand sich auf der Umgehungsstraße, die die Altstadt im weiten Bogen umgab. Steele nahm den direkten Weg, um den Transporter an einem Punkt kurz vor der Einmündung der Umgehungsstraße in die Uferstraße zu erwischen.
Steele war sich seiner Sache ebenso sicher, wie er sich darüber klar war, dass seine Jagd scheitern konnte. Er schritt über ein dünnes Netz, er musste sein Bewusstsein bis an die Grenze des Menschenmöglichen schärfen, er musste sorgsam wählen, vorsichtig handeln, genau beobachten, sich vor Augen halten, dass er selbst das Netz änderte, indem er es beschritt, musste dort, wo er gezwungen war an dem Stoff mitzuweben, ein Muster wählen, das ihm zupasskam.
Jeder Schritt war eine Entscheidung. Wie in einem der unzähligen Schwertkämpfe gegen Meister Ki musste der Krieger vor Bewusstheit glühen wie die Stahlklinge in der Schmiedeesse. Alles galt, alles hatte Bedeutung, jeder Lidschlag änderte die Welt, jeder Herzschlag hämmerte das Schicksal in eine neue Form, jeder Atemzug formte die Gestalt der Geschehnisse.

Ohne es zu wissen, befand sich Steele in diesem Augenblick in dem höchsten Zustand, den ein Irdischer erreichen kann. Mystiker scheuerten sich die Kniescheiben durch, um diesen Punkt zu erreichen, Lüstlinge hechelten durch die trostlosen Fleischödnisse ihrer Orgien, Künstler quälten sich zu diesem Ort, wo Schöpfer und Satan, Himmel und Hölle einen fauchenden Schlund formten, in dem der Mensch sich verlor und vorwärts stürzte zu dem Ort letzter, universaler, kosmischer Notwendigkeit.
Mit populäreren Worten: Steele war hammermäßig gut drauf.
Sein Körper glühte wie im Fieber. Wie einer der alter Krieger der irischen Sagen, die zur Abkühlung hintereinander in drei Kessel mit Eiswasser springen mussten, bevor sich die flammende Hitze ihrer Kampfeswut linderte, hinterließ Steele eine Schleppe kochender Luft, deren Wirbel noch in die Fenster schlug, die von entsetzten Loretaner aufgerissen wurden, als der Trommelwirbel rasender Sohlen schon längst verklungen war.
Jeder Schritt eine Entscheidung. Links war wieder das Röhren des Motors. Weiter entfernt jetzt, weil der Transporter am Scheitelpunkt der weiten Kurve angelangt war.
Entscheidung, Entscheidung, Entscheidung. Jeder Schritt hämmerte den Boden, der Aufprall erschütterte Steele bis in die Haarspitzen. Entscheidung, Klarheit, Übersicht, Ruhe.
Kreischend fuhr eine Frau zurück, die aus der Tür treten wollte. Ein Radfahrer zeterte, verriss den Lenker und landete scheppernd in einer Mülltonne.

Die Gasse spaltete sich, wie ein Keil ragte ein Haus in Steeles Weg. Links tönte der Motor.
Steele warf sich nach rechts. Nie im Leben würde Steele erfahren, dass die linke Alternative zu einem der drei Komatsu-Bagger der Firma Tinto Durati führte, der neben einem großen, den Weg versperrendem Bauloch stand, in dessen Tiefe ein Kanalrohr auf Reparatur wartete.
Eine Treppe wurde mit einem Satz überwunden, ein erleuchteter Platz, das kranke gelbe Licht, erneut die Finsternis einer Gasse, die Beleuchtung, die näher raste, Abzweigung links, ein Satz zur Seite, um einen Zusammenprall mit zwei Mütterchen zu vermeiden, links, ein Durchgang, ein Torbogen, Knallen der Schritte in dem engen Durchgang, links, vorbei an einem Dreirad, links.
Das war die Umgehungsstraße. Von hinten dröhnte der Transporter. Steele rannte weiter. Da, an dem Haus da vorne stand ein Gerüst.
Steele stoppte, indem er sich mit dem Arm an den Holzpfeiler des Baugerüstes einhakte. Sein Schwung riss ihn weiter, er hing für einen Moment waagerecht in der Luft, mit den Beinen strampelnd, keuchend, nach Atem ringend. Das Gerüst begann zu schwanken und zu knarren. Ein Staubregen kam von den hoch gelegenen Brettern.

Steele nahm Anlauf. Ein wütender Tritt, nichts, ein zweiter Tritt, nichts, ein dritter, in den er alle Konzentration legte. Der Pfeiler knickte ein. Steele sprang zur Seite. Konzentration, der Wille in die Ausführung einer Bewegung gelegt … die zweite Stütze splitterte und knickte. Ein Laufbrett begann zu rutschen. Das Knarren und Rieseln wurde zu einem Rappeln und Schütteln, einzelne Gerüstdielen knallten auf die darunterliegenden, Maueranker rissen kreischend aus dem Putz und schrammten über die Fassade.
Die dritte Stütze. Konzentration. Steeles wuchtiger Tritt schmetterte ein Stück des Rundholzes gegen die Hauswand. Bretter polterten in die Tiefe. Steele ging in Deckung, schob sich dann zwischen einen der hinteren Pfeiler, drängte sich wie ein Keil zwischen Holz und Hauswand, presste gurgelnd seine Arme gegen die Ziegel.
Das Gerüst wankte, schwankte, kam ins Kippen, krachte auf die Straße. Einige Zementsäcke fielen wie Bomben von einem Staubschweif begleitet und platzen auf dem Straßenasphalt in weißen Wolken. Speiseimer und Geräte zischten wie Geschosse zu Boden.
Der Staub nahm Steele die Sicht. Aber er hörte das Quietschen abgenutzter Bremsen. Als sich der Staub verzog, starrte der entsetzte Fahrer des Fiat-Transporters auf ein Brett, das ihm wie eine Lanze entgegen gewandt war und ihn bei einem Durchbruchsversuch durchbohrt hätte.
Der Fahrer stellte den Motor ab und ließ die Arme sinken. Leise wimmernd schaute er auf den Mann, der hinter dem Chaos aus Brettern, Stützen, Eimern und geplatzten Mörtelsäcken hervorsprang und auf ihn zukam – entschieden und unvermeidlich wie das Schicksal selbst.
»Nicht schlagen, bitte, bitte nicht schlagen, ich vertrage es nicht, wenn man mich schlägt, nicht schlagen, das tut mir immer so weh!«, winselte der Mann, als die harte Faust Steeles den Wagenschlag aufriss und den Fahrer am Nacken von seinem Sitz zog.
»Ich werde dich nicht schlagen, du Stinker, ich werde dir die Haut millimeterweise runterschneiden«, zischte ihm Steele ins Ohr. Der andere spürte die Fieberhitze, die von Steele ausging wie von einem Hochofen. Seine Muskeln versagten, er brach in Tränen aus und ließ alle Hoffnung fahren und alle Glieder hängen. Er hing an Steeles Faust wie ein geschlachtetes Karnickel am Fleischerhaken. Selbst als Steele sein Opfer schüttelte, gab es nur ein verstärktes Heulen, Weinen, Winseln, Klagen, Wimmern und Schniefen.
Seine Frau Helena hatte Steele einst, in fernen glücklichen Zeiten, eine Höllenszene aus Dantes Divina Comedia vorgelesen. Die Geräuschkulisse im Reich des schwarzen Engels konnte nicht mitleiderregender sein.
Jetzt brauchte Steele eigentlich einen Tony Tanner und seine diplomatischen Fähigkeiten, um diesen Schlaffsack aus seiner Schreckstarre zu bringen. Aber Tony Tanner war natürlich nicht da.

Um die Wartezeit zu überbrücken, schaute sich Steele im Schein einer Straßenlampe den Fiat-Transporter an. Es war ein schlecht gewartetes, halb verrostetes Stück Automobilgeschichte. Die Seitenflächen waren mit der Sprühdose verunziert worden. Keine Welt den Konzernen, Globalisierung verpiss dich, Tod dem Raubtierkapitalismus, Globo no, Wir sind die Menschheit konnte Steele entziffern. Lesen konnte er es, verstehen nicht.
Die Szene wurde in das bläuliche Licht von Argonscheinwerfern getaucht. Tony stellte die Warnblinkanlage an, würgte den Motor ab und stieg aus. Etwas verwundert starrte er auf den Mann, der wie eine Marionette in der Luft von Steeles Faust herabbaumelte.
»Guten Abend, mein Name ist Tony Tanner«, sagte Tony und kam sich unendlich blöde vor.
»Erfreut, Mario mein Name«, antwortete die Marionette und streckte Tony die rechte Hand hin. Die beiden schüttelten sich die Hand, was Mario in schwingende Bewegung versetzte. Trotzdem war Tony erfreut, denn er erkannte, dass er instinktiv das Richtige getan hatte. Komisch, dachte Tony, man kann das Richtige tun und sich dabei bescheuert vorkommen, wahrscheinlich ein Naturgesetz, das ich eben neu entdeckt habe.
»Darf ich vorstellen«, fuhr Tony fort, »Fräulein Lucille Chaudieu …«
Fräulein Lucille Chadieu und Herr Mario schüttelten sich höflich die Hände.
»Herrn Steele haben Sie ja schon kennengelernt.«
»Nicht wirklich – der will mich – hauen?«, ächzte Mario uns sah aus, als wollte er wieder in Tränen ausbrechen.
Steele erfasste die Situation insoweit, als er Mario jetzt absetzte. Die Knie des mickrigen jungen Mannes mit der Apfel-auf-dem-Pfeil-Figur, der Pudelmütze und den Wuschellocken gaben nach, sodass Steele ihn mit einem schnellen Griff am Kragen aufrichtete, dann zu sich umdrehte und ihm die Hand schüttelte, als handelte es sich um einen Pumpenschwengel.
»Hei, ich bin Steele,« sagte Steele. »Ich glaube, wir sollten uns mal in Ruhe unterhalten.«
»Hei, ich bin Mario«, lautete die Antwort, »das von eben tut mir leid.«
»Kein Problem«, sagte Steele und überließ das Feld Tony Tanner, um sich intensiv dem Wegräumen der Straßenblockade zu widmen. Dabei wurde er von einigen Neugierigen beobachtet, die er mit einer unvergleichlich strengen Geste einlud, sich an den Aufräumungsarbeiten zu beteiligen. Da niemand gern Steeles nächstes Karnickel sein wollte, gab man sich halbwegs motiviert ans Werk.
Tony hatte sich inzwischen ehrfurchtsvoll der Lektüre der Slogans auf dem Wagen gewidmet. Als er sich Mario zuwendete, wusste er, in welche Richtung er steuern musste.
»Demonti ist der dümmste Arsch zwischen Meran und Cefalu, dem kannst du mit so was nicht kommen«, sagte Tony.
Mario schaute unter seiner Pudelmütze wie ein Begossener solcher hervor.
»Was soll ich denn machen? Er hat einen Ruf. Er war gegen das Kraftwerk.«
»Demonti hätte das Kraftwerk selbst gebaut, wenn es ihn dorthin gebracht hätte, wo er hinwollte. Demonti ist nicht mal ein Chamäleon, er ist nicht einmal eine Scheißpolitikermaske, er ist ein verwichster kleiner Idiot aus einer Metzgerfamilie und er hat nur eins, Machtinstinkt und Kaltschnäuzigkeit, wenn du Glück hast, treibt er’s mit deiner Schwester, aber zu mehr kannst du ihn nicht bewegen, und dann will er noch deine Mutter …« Tony verliebte sich in die Klaviatur seiner Tiraden und ließ sich nur durch einen protestierenden Kiekser des dürren Mario bremsen.
»Ich habe keine Schwester«, gestand Mario und stand kurz davor, wieder in Tränen auszubrechen, vielleicht weil er sich so schämte, keine Schwester zu haben, mit der es Demonti treiben könnte.
Tony erkannte mit dem wachen Instinkt des in der Wolle gefärbten Weltmannes, dass er das Thema wechseln musste.

»Was wolltest du Demonti zeigen? Vergiss den Stinker, du hättest gleich zu uns kommen sollen!«
»Aber ich kannte euch doch gar nicht! Was war mit meiner Mutter …?«
Als Gesprächspartner war Mario nicht gänzlich unkompliziert. Trotzdem blieb Tony auf der Höhe der Ereignisse.
»Jetzt kennst du uns. Also – schieß los.«
Mario griff unter den Fahrersitz und holte eine Papierrolle hervor. Tony hätte schwören können, dass es sich um die Rolle handelte, die er gestern schon als Beobachter gesehen hatte.
Im nächsten Moment bestätigte Mario seinen Verdacht.
»Das hier habe ich Demonti schon ein paar Mal gezeigt. Aber er wollte nichts davon wissen. Hier …« Mario rammte einen Zeigefinger, unter dessen Nagel sich ein schwarzer Schmutzrand befand, auf das Papier. » … zwei Grad, hier, drei Grad und hier und hier und hier. Und hier die Algenverteilung, von da nach Süden und hierher kommt die Strömung.«
»Das ist alles sehr interessant«, murmelte Tony, der gar nichts verstanden hatte, und rieb sich mit der Hand das Kinn. Kein Parlamentsabgeordneter hatte je verständnisvoller ausgesehen. »Allerdings hätten wir noch ein paar Fragen.«
»Kein Problem«, antwortete Mario. »Ich beantworte alle Fragen, wir haben alles durchschaut, die internationalen Konzerne vergiften das Mittelmeer, um die Fischerei zu vernichten, damit norwegische Lachsfarmen, die mit US-Kapital in naturgeschützten Fjorden hingeklotzt werden, wo unterbezahlte illegale Einwanderer und Einwanderinnen unter jämmerlichen Bedingungen schuften müssen, damit die Kapitalisten und Kapitalistinnen ihren Aktienwert steigern und das volative Kapital und Kapitalin, äh, weitere Nationen und Nationinnen, äh, in die Zwickmühle, die Zwangsjacke der Globalisierung – und daher müssen wir zusammen und überhaupt diese Erwärmung, zu behaupten, es hinge mit unterirdischen Quellen zusammen, so ein Quatsch, die Forschung ist nichts als eine Unterabteilung der Politik, die Forscher und Forscherinnen spielen ihr Spiel in der Komödie der globalisierten Verdummung, die Wissenschaft ist Politik, die Wissenschaft ist korrupt, wir müssen und wir werden, selbst wenn und auch dann und nicht mit uns, aber nicht in diesem Ton …«
Die mickrige Stimme Marios hatte sich im Verlauf dieser Rede zu einem lautstarken Krähen gesteigert. Mit gespreizten Beinen, den einen Arm in die Seite gestemmt, den anderen erhoben, gab er ein schönes Vorbild für ein sowjetisches Arbeiterdenkmal ab. Außer Atem brach Mario seine Rede ab. Er stieg sozusagen von der Barrikade herunter und fiel auch prompt wieder in sich zusammen. Dann spreizte ein strahlendes Lächeln sein Gesicht, als Tony Tanner seine Rede mit frenetischem Beifall quittierte, in das Lucille und mit einer kleinen Verzögerung auch Steele einfielen. Auch die unfreiwilligen Helfer am zusammengestürzten Gerüst hatten die Arbeit eingestellt und zugehört, aber ein kräftiger Blick von Steele setzte sie wieder in Gang, und Steele zog Tony, Lucille und Mario etwas zur Seite.
»Bravo, bravissimo«, jubelte Tony, »endlich einer, der den Zuhörern und Zuhörerinnen die blanken Fakten und Faktinnen sagt.«
»Klasse«, fügte Steele zu. »Aber wir müssen über die Sache reden. Und schrei nicht so, du musst deine Kräfte schonen!«
Mario nickte und blickte sich verstohlen um. »Die Globalisierung hat ihre Agenten überall. Man muss vorsichtig sein. Gestern hat mich so ein Drecksack verfolgt, aber ich habe den Trottel gelinkt.«
»Die Agenten und Agentinnen der Globalisierung sind so beschissen wie die Globalisierung selbst«, verkündete Tony Tanner im Brustton der Überzeugung. Lucille strahlte ihn an und spendete seinen Worten warmen Beifall. »Trottel, Idioten, Deppen«, bestätigte sie Tonys improvisierte Brandreden gegen die Agenten und Agentinnen der Globalisierung.
»Gibt es hier irgendwo einen Ort, wo wir in Ruhe miteinander reden können?«, fragte Tony.
»Die Kampagnenzentrale von Globo No«, schlug Mario vor. »Abhörsicher – und meine Kumpels passen auf.«
»La Lutta continua«, deklamierte Steele und legte den Arm um Marios schmächtige Schultern. »Ich fahre mit unserem Genossen, und ihr fahrt hinter uns her. Und noch eins …« Steeles Zeigefinger stoppte eine Handbreit vor Lucilles rechter Brustwarze. »… ich weiß, was du mit deinem linken Bein gemacht hast.«
»Ich verstehe nicht, um was es geht. Im Übrigen war ich angeschnallt.«
»Klappe, du schnallst dich und behältst Finger, Arme und Beine rechts vom Getriebetunnel, ist das klar.«
»Alles klar. Tony, ich fahre«, sagte Lucille patzig, trottete aber dann doch auf die Beifahrerseite, während ein Tony Tanner, dessen Kopf zumindest eine Eigenschaft mit der Nase von Rudolf Rednose teilte, sich flugs hinter das Lenkrad verkrümelte.
Steele schaute Lucille finster hinterher, bis sie sich angeschnallt hatte und dann mit einem schnippischen Pah die Armen verschränkte und aus ihrem Seitenfenster schaute. Erst dann gab er Mario einen Klaps auf die Schulter.
»Mario, Kumpel, du lässt mich doch bestimmt deinen geilen Schlitten für eine flotte Runde fahren?«

***

Das Kampagnezentrum von Globo No war in der Tat abhörsicher. Weder CIA noch Mossad noch irgendein anderer Geheimdienst wären in der Lage gewesen, in derart morsche Wände ein elektronisches Abhörsystem zu popeln – es wäre sofort wieder herausgebröselt.
Das Erscheinen des Fiat-Transporters versetzte einige junge Männer und Frauen in Panik, weil Steele den Wagen in einer Art vor das Gebäude fuhr, die ansonsten nur von Leuten namens Montoya, Raikkönen oder Schumacher bekannt ist und auch dann nur, wenn die es wirklich eilig haben, neue Reifen zu bekommen.
Das Haus lag unterhalb der Küstenstraße direkt am Strand. Es gehörte einmal der Fischereigenossenschaft von Loreta, wie Mario erzählte, aber die hatte sich schon vor Jahren aufgelöst. Steele wurde vorgestellt und dann um das Haus geführt. Mario deutete auf eine Wellblechbaracke, deren Wasserseite fast von den Wellen bespült wurde.
»Dort sind unsere Einsatzboote«, erklärte er stolz.
Als Nächstes brach eine zweite Panik aus, weil Tony Tanner den Wagen mit aufheulendem Motor, der dann dumpf abgewürgt wurde, knapp hinter dem Transporter zum Stehen brachte.
Nach einer Weile standen sie im Kampagnenraum von Globo No, unter einer nackten Glühbirne und schauten auf eine Karte.
Mario erklärte die einzelnen Farben und Eintragungen, manchmal fügte ein anderer eine Erklärung dazu. Tony drehte einen abgestoßenen Emaillebecher in der Hand und schlürfte an dem heißen Kaffee. Ein pickliges, verhuschtes Mädchen mit langem strähnigem Haar hatte ihm den Becher angeboten.
Tony hatte gezögert. »Ich kann ihn nur annehmen, wenn es fair gehandelter Kaffee ist«, hatte er apodiktisch verkündet. Die Globo No-Leute hatten sich angeschaut. »Absolut fair gehandelt, Wasser aus dem eigenen Brunnen und Strom aus Windkraft«, hatte Mario verkündet.
»Dann gern.« Tony nahm den Becher und erntete ein mattschwarzes Zahnspangenlächeln.
Der Kaffee war gut und munterte ihn auf. Langsam verstand er sogar, was Mario dem Ex-Bürgermeister hatte verklickern wollen.
»Diese Algenart, den lateinischen Namen spare ich mir jetzt, ist nur in tropischen Gebieten beheimatet. Sie ist hochtoxisch und hat die Tendenz, alles weitere Leben um sich herum auszulöschen«, erklärte Mario. Sein Finger deutete auf eine gestrichelte Linie. »Hier haben wir deutliche Spuren dieser Algen gefunden.«
Steele beugte sich über die Karte. »Die einzelnen Untersuchungen liegen zeitlich ziemlich weit auseinander.«
»Mehr können wir uns eben nicht leisten. Diesel ist teuer und wir haben alle unsere Jobs oder studieren«, antwortete Mario etwas pikiert.
»Wie kommen die Algen hierhin?«, wollte Tony wissen.
»Am wahrscheinlichsten aus Ballasttanks von Frachtern. Weniger wahrscheinlich aber nicht völlig unmöglich ist, dass sie sich außen an den Rümpfen festgesetzt haben. Die sind zwar selbst mit einem giftigen Anstrich versehen, der die Weltmeere vergiftet, aber es gibt holländische Untersuchungen, dass manche Algen gegen diese Abwehr immun sind. Eigentlich sollte das kein Problem sein. Die Wassertemperaturen im Mittelmeer sind zu niedrig, um diesen Algen eine Lebensgrundlage zu bieten.«
»So weit die Theorie«, sagte Steele.
»Ja, so weit die Theorie. Die Praxis sieht so aus, dass sich diese Algen auf einer breiten Front halten.«
»Halten, aber nicht ausbreiten«, kommentierte Tony, nachdem er sich mit den verschiedenen Linien vertraut gemacht hatte.
Nun wollte Steele alles über Strömungs- und Windrichtungen und deren Stärke wissen. Beide zeigten über das Jahr eine große Konstanz. Wenn der Wind einmal wechselte, war eine leichte Änderung der Algenverteilung festzustellen, die aber nicht wesentlich ins Gewicht fiel.
»Klar ist ja wohl eines«, mischte sich Lucille plötzlich ein, die bisher geschwiegen hatte. »Die Algen interessieren uns nicht, sondern die Frage, warum sie sich in diesem Gebiet halten können.«
»Eben, so ist es!« Lucille bekam einen anerkennenden Blick, und Marios Zeigefinger tippte auf einen Punkt auf der Karte, der mit einem gelb-schwarzen Strahlensymbol bezeichnet war. »Die Strömung geht hier in südliche Richtung. Bis auf wenige Ausnahmen, wenn ein Sturm die Algen verweht hat, sind die ersten Spuren genau am Kraftwerk zu finden und ziehen sich nach Süden weiter.«
»Und welche Folgerungen ziehen wir daraus?«, wollte Tony wissen.
»Dass vom Kraftwerk mehr Wärme abgeleitet wird als offiziell behauptet und gesetzlich erlaubt. Und wenn wir das beweisen können, dann ist das Kraftwerk illegal und muss sofort abgeschaltet werden.«
»Oder das Werk läuft kühlungsmäßig permanent auf der Kante«, überlegte Steele. »Was wiederum bedeuten würde, dass das gesamte Konzept nicht funktioniert oder der Reaktor mit einer wesentlich höheren Leistung gefahren wird, als in der Betriebserlaubnis vorgesehen.«
»Offiziell dürfen nur 30 Prozent der Maximalleistung genutzt werden«, mischte sich einer von Marios Anti-Globalisierungsgenossen ein. »Und an einer bestimmten Anzahl von Tagen, ich glaube es handelte sich um 20 Prozent der Laufzeit zwischen zwei Stufe-Eins-Revisionen, dürfen 40 Prozent der Reaktorleistung genutzt werden, wobei diese 40 Prozent sich auf die theoretische Volllast von 120 Prozent minus 20 Prozent der laut IAEKL-Bestimmungen im Volllastbetrieb notwendigen Überlastreserven beziehen, was aber nur theoretisch ist, weil der Reaktor dafür nicht mal ausreichend mit Brennstäben bestückt ist, sonst würde er aus der Kategorie Forschungsreaktor herausfallen und anderen EU-Bestimmungen unterworfen sein.«
Ehrfurchtsvolles Schweigen kommentierte diese Ausführungen. Steele betrachtete die Karte und richtete sich dann auf.
»Wie sieht der eigentliche Zulauf des Kühlsystems aus?«
»Ein abgegrenztes Betonbecken unterhalb des Kraftwerks. Von dort läuft das Seewasser in eine Filteranlage und dann in den Sekundärkühlkreislauf. Von dort kommt es in eine Kühlanlage und wird etwas unterhalb des Einlaufs wieder ausgelassen. Fünf Grad wärmer, als es beim Eintritt war, das ist der offizielle Wert und das haben wir oft genug kontrolliert.«

***

»Also wenn mich einer fragt, dann haben diese Typen alle einen Schuss«, erklärte Lucille. Sie räkelte sich auf der Rückbank des Wagens, mit dem sie, Steele und Tony zum Hotel zurückfuhren. »Globo No, das globale Antiglobalisierungsnetzwerk, gegründet in Loreta, mit Zellen in Clacton-on-Sea, Timbuktu und Madeira in Arizona. Die haben doch eine Vollmeise.«
»Du sollst bei denen ja auch nicht mitmachen«, antwortete Tony. »Aber eines steht doch fest – dieser Forschungsreaktor wurde gebaut, um das Prinzip der Kühlung durch Meerwasser zu testen und seine Praktikabilität zu beweisen. So – als sogenannte Sicherheit hat man einen Fluss umgeleitet und einen riesigen See künstlich aufgestaut. Und trotz aller dieser Maßnahmen ist das Meerwasser in der Umgegend offensichtlich wesentlich wärmer als die Umgebung. Da kann doch was nicht stimmen.«
»Alles klar, nachdem wir das also zweifelsfrei festgestellt haben, können wir den Auftrag, den uns Dorkas so großmütig zur Rettung der Welt zugeschustert hat als erledigt ansehen. Morgen packen wir die Koffer und zischen ab. Dieses Kaff geht mir auf den Geist, seit ich den Fuß über die Ortsgrenze gesetzt habe«, drängte Lucille.
Steele parkte den Wagen vor dem Savoia.
»Nein«, sagte er entschieden, »das wäre allzu billig. Mit dem Kraftwerk stimmt was nicht und ich will wissen was. Und darum werde ich morgen tauchen und mir die ganze Geschichte mal aus der Fischperspektive ansehen.«
Tony nickte. Wieder einmal fühlte er sich am Anfang der Geschichte, aber seit der Zeit in Collesalvetti freute er sich auf das Kommende. Er nahm sich die Zeit, seinen Vater in London anzurufen. John Tanner bestärkte ihn, seinen Weg zu gehen, nur Mutter Berthe, die den Telefonhörer eroberte, flehte ihn an auf sich aufzupassen und erinnerte ihn daran, dass sie ihn liebte.
Der nächste Morgen kleidete sich in das niederdrückende Grau eines schlechten Gewissens. Tony Tanner brauchte nur aus dem Fenster zu schauen, auf einen grauen Himmel, der sich, am Horizont verklebt von einem zähen Dunst, auf eine graue See stützte, um eine Bedrückung zu verspüren, die sich wie Schlamm auf sein Gemüt legen wollte – aber diesem Gefühl konnte er widerstehen. Ein lauer Wind kam von der See und schob Wellen in die Bucht. Manchmal fuhr eine heftige Böe über das Wasser, schob Felder von geriffelten Wellen vor sich her und trieb die Brandung gischtend gegen das Ufer. Der Blick auf die Bucht war die zu einem Bild gewordene quälende Vorahnung.
Auf dem Balkon konnte Tony den feinen Nieselregen auf der Haut spüren, dessen hauchzarte Berührung sofort die lästige Empfindung des Beschmutzwerdens in ihm wachrief. Die Windstöße waren so stark, dass sie das ganze Gebäude in Schwankung zu versetzen schienen.
Mit Mühe konnte Tony gegen den Druck einer Böe die Balkontür schließen. Der Wind verfing sich heulend in der schmiedeeisernen Brüstung. Die Hände auf die Türklinke gelegt, blieb Tony eine Weile stehen. Es pochte in ihm, als müsste er sich an eine schlechte Nachricht erinnern, die er für eine Weile verdrängt hatte. Zwei Hotelgäste traten auf die Straße, schwankten unter dem Ansturm des Windes und gingen dann, die Arme untergehakt, am Ufer entlang. Es waren zwei ältere Frauen, die ihre Frisuren mit Kopftüchern aus durchsichtigem Plastik schützten.
Tony konnte hören, wie Lucille nebenan einen Schlager aus dem Radio mitträllerte. Rhythmisches Tappen verriet, dass sie tanzte oder Gymnastik machte. Für einen Moment war Tony verärgert, weil dieses leichtsinnige Weib nichts von der Spannung spürte, die hinter der sichtbaren Hülle dieses Tages schlummerte. Dann schlug sein Ärger in Erleichterung um. Lucille hatte diesen Morgen im Griff, er selbst war es, der Gespenster sah, das war alles!
Im Speisesaal saß Tony eine Weile allein, bis Steele auftauchte und sich mit einem knappen Gruß zu ihm setzte. Er erweckte nicht den Eindruck, als wäre er auf ein Gespräch aus. In seiner düsteren Schweigsamkeit wirkte er auf Tony wie ein Gebäude mit vernagelten Fenstern. Nur manchmal war zu erkennen, was hinter der Fassade vorging. Wenn Steele eine Tasse zu schwungvoll absetzte, dass sie laut klirrte, wenn er mit zu viel Schwung einen Teller zur Seite schob, wenn sich aus dem Griff nach einem Löffel für Sekunden ein heftiges Trommeln auf der Tischplatte ergab, dann konnte das nur eine Ursache haben. Steele wirkte nervös.
Schließlich erschien auch Lucille. Sie war frisch geduscht, frisch geschminkt, frisch parfümiert, frisch gefönt, ihr Haar umschmeichelte ihr Gesicht. Sie sprühte vor Energie, Plauderlaune und Lebensfreude und wirkte wie eine Mischung aus Fanfarenstoß und Deo-Reklame. Tony blieb nur die Chance, sich einzubetonieren oder auf Lucille einzugehen. Er entschied sich für Letzteres und stellte schließlich fest, dass ein ausreichendes Frühstück mit ausreichenden Mengen an Koffein ein gutes Mittel gegen gedrückte Stimmung ist.
Außer ihnen belebten nur noch wenige Gäste den weitläufigen Saal. Die meisten hatten ihr Frühstück schon vor einer oder zwei Stunden zu sich genommen, saßen jetzt rauchend im Wintergarten, im Foyer oder sie waren ausgegangen.
Elisetta erschien und nahm in der Nähe Platz. Etwas später kam ihre Schwester. Nicoletta trug schwarz und hatte ihre Augen hinter einer Sonnenbrille verborgen. Sie wirkte, soweit Tony das feststellen konnte, einsilbig. Elisetta bemerkte es nicht, weil sie alle Mühen der Unterhaltung auf sich nahm. Manchmal wurden Satzfetzen verständlich, es waren Namen, wahrscheinlich die von wirklich guten Bekannten. Nicoletta nickte nur manchmal oder gab eine kurze Bestätigung. Das alles so knapp und kurz, dass jeder, der nicht von dem Mitteilungsbedürfnis Elisettas befallen war, gemerkt hätte, dass auf der Gegenseite keinerlei Interesse vorhanden war. Wahrscheinlich wusste Elisetta das ebenso sicher wie sie es selbstbewusst ignorierte. Die Ellbogen auf die Tischplatte gestemmt, das Kinn auf die gefalteten Hände gelegt, hatte Nicolettas Haltung etwas von der Nonchalance einer Katze, die in der Sonne liegt. Tony konnte das Gefühl nicht loswerden, dass ihre Blicke ihn aus der Deckung der dunklen Gläser heraus taxierten. Er glaubte fast, diese Blicke wie Nadelstiche auf der Haut zu spüren.
»Ich habe vom professionellen Tauchen nicht sehr viel Ahnung«, sagte Tony eine Weile später zu Steele. »Ich habe mal einige Kurse in der Karibik mitgemacht, das war’s dann auch. Aber es reicht, um zu wissen, dass bei diesen Wetterverhältnissen in zehn Meter Wassertiefe nichts mehr zu sehen sein wird. Und wir reden ja nicht von zehn Metern Tauchtiefe, sondern von fünfzig.«
»Von knapp neunzig, um genau zu sein«, antwortete Steele. »Ich habe mir alle diese Argumente schon durch den Kopf gehen lassen. Fest steht, dass sich das Wetter in den nächsten Tagen nicht bessern wird. Also müssten wir längere Zeit hier bleiben, was ich für ein Risiko halte. Anscheinend ist die hiesige Polizei schon nervös geworden. Es gab gestern einen gewissen Flurschaden, so was erregt Aufmerksamkeit in einem Kaff wie Loreta. Demonti ist auch nicht zu trauen. Was hat er wegen dieses Mario unternommen? Wir könnten auch abziehen und die Sache sein lassen, aber das ist nur eine theoretische Möglichkeit. Also tauche ich heute, basta. Mario hat mir versichert, dass es eine gute Tauchausrüstung gibt, einschließlich einer starken Lampe. Das ist doch schon was.«
»Trotzdem – mit so einer Lampe nach etwas suchen, von dem man nicht mal weiß, was es ist …«
»Das machen wir doch seit Längerem oder?«
»Dann würde ich sagen, wir machen uns fertig, damit wir die Sache hinter uns bringen«, beendete Lucille schließlich das Gespräch.

***

In der Kampagnenzentrale von Globo No erwartete sie ein nervöser Mario, der in jeder Sekunde kurz vor dem Ausbruch einer Panik zu stehen schien. Steele lenkte den Wagen hinter das Gebäude, sodass er von der Straße aus nicht mehr zu sehen war. Dann wurden die Reifenspuren verwischt.
Die Aktionsflotte des Netzwerks der Antiglobalisierung verbarg sich in einem zum Wasser hin offenen Wellblechschuppen. Es handelte sich um graues Zodiak-Schlauchboot, offensichtlich aus Militärbeständen, und um ein Sturmboot der italienischen Armee. Mit skeptischem Blick knibbelte Steele an einem schwarzen Gummiflicken auf dem Seitenwulst des Zodiak.
»Der hält schon seit Jahren«, versicherte Mario.
»So sieht er auch aus.«
Das Schlauchboot bot zu wenig Platz, das Sturmboot war nicht wesentlich größer und nutzte bei dem herrschenden Wellengang nichts. Also blieb nur das dritte Boot, das aufgebockt im Hintergrund des Schuppens lag.
»Himmel, was für eine Schüssel«, lautete der Kommentar Lucilles. Sie trug weiße Hosen und eine blau-weiß gestreifte Matrosenbluse. Damit sah sie einerseits hinreißend aus, wirkte aber auch wesentlich seetüchtiger als der Fischerkahn, der wie ein KO-gegangener Boxer in den Armen seiner Betreuer in einem Rohrgerüst lag und nicht den Eindruck vermittelte, als würde er Sehnsucht nach dem Wasser verspüren.
»Vor fünfzig Jahren war das sicherlich mal ein flotter Kahn«, schloss sich Tony Tanner der Beurteilung Lucilles an.
Die Mare nostrum war vielleicht zwölf Meter lang, aus Holz gebaut, hatte einen Motor, der seine Kraft auf eine Heckschraube stemmte, ein mit roter Mennige bepinseltes Heckruder, ein kleines Deckshaus, aus dessen Dach der Auspuff des Motors ragte und einen Flaggenstock am Heck, von dem die Fahne von Globo No schlaff und feucht herabhing. Das Boot war aus Holz gebaut, ein Material, das man allerdings unter den vielen Schichten dick aufgetragener Farbe nur noch ahnen konnte. Steele trat an das Boot, klopfte an den Rumpf, prüfte die Nähte zwischen den Planken, kratzte ein wenig Farbe ab, um sich von dem Zustand des Holzes zu überzeugen.
Dann trat er zurück und betrachtete aufmerksam das Boot. Für einen Kenner wie ihn enthüllte sich sofort die Schönheit der Linien. Vom Heck zum Bug stieg die Deckslinie in elegantem Schwung an, um in einem kurzen Schnabel auszulaufen, der fast wie die kokette Andeutung eines Rammsporns wirkte. Der Bug schwang von diesem Balken zurück, um dann fast gerade zum Kiel herabzufallen. Es war ein ganz normales Fischerboot, ein halbes Jahrhundert alt und doch inzwischen fast so etwas wie ein Zeugnis einer vergangenen Zeit. In jedem Zollbreit steckte eine Erfahrung, die in die Jahrtausende hinabreichte und dieses Schiff mit den Schiffen der Phönizier oder der Griechenflotte vor Troja verwandt machte. Steele nickte zufrieden. Mit einer gewissen Verbitterung dachte er dann beim Anblick des schön geschwungenen Bugs an die Stahlmonster, die jetzt durch die Weltmeere pflügten, hinter einem hässlichen Wulstbug her wie feiste Kapitalisten hinter ihrer Zigarre.
»Sie ist perfekt«, sagte Steele.
Mario war auch in diesem Fall von der Einsatzfähigkeit des Flaggschiffes sowieso zutiefst überzeugt, musste allerdings auch zugeben, dass es seit zwei Jahren nicht mehr im Wasser gewesen war. Das lag allerdings auch an der etwas komplizierten Art und Weise, mit der die Mare nostrum ihrem eigentlichen Element näher gebracht werden musste. Das Gestell, in dem ihr Rumpf ruhte, saß auf Vollgussrädern, die wiederum auf zwei Schienen liefen, die im Wasser verschwanden. Um das Gestell in Bewegung zu setzen, musste man mittels einer Winde ein Drahtseil aufrollen, das am wasserseitigen Ende der Schienen über eine Rolle lief und das Gestell in diese Richtung zerrte. Irgendwann, so berichtete Mario, schwamm der Rumpf dann von allein auf. Das System sei seit Zeiten der Fischereigenossenschaften bewährt.
»Tja«, sagte Steele mit einem Blick auf Tony. »Dann fangt schon mal an zu kurbeln.« Er warf den Kompressor an, der tapfer lushustete.
Es dauerte noch lange, bis Steele alle Flaschen mit Pressluft gefüllt hatte, sich von dem Zustand des Tauchcomputers überzeugt und sich in einen zu engen Neoprenanzug gezwängt hatte.
In der Zwischenzeit setzte Tony die quietschende Winde in Bewegung. Das Drahtseil spannte sich und zog endlich zentimeterweise das Boot zum Wasser. Wegen der Untersetzung musste Tony den Hebel viele Male herumwirbeln, bevor die Windentrommel sich nur ein einziges Mal gedreht hatte. Er spürte, wie die Haut an seinen Fingern Blasen bildeten. Das würde ihn abhärten – wie lange lagen seine Bürokeks-Zeiten eigentlich zurück? Tony packte seine Hände in ein paar alte Lappen und schwengelte fröhlich weiter.
Es war ihm dennoch eine Freude, als einige von Marios Genossen auftauchten und ihn ablösten. So konnten Tony, Lucille und Steele mit einer kleinen Leiter an Bord klettern, die Ausrüstung einladen und abwarten, bis das Gestell ihr Boot endlich freigab.
Lucille stieß ein fröhliches Kichern aus, als der Rumpf freikam und die Mare nostrum zum ersten Mal Antwort auf die anrauschenden Wellen gab. Tony verlor fast das Gleichgewicht und erwischte gerade noch die Reling, die auf dem Deckshaus langlief. Bevor er sich an die Bewegungen des Bootes gewöhnen konnte, gab es einige fürchterliche Explosionen, und eine Menge von tiefschwarzem Rauch quoll aus dem Auspuff. Steele hatte den Motor vorgeglüht und angelassen. Nach einigen Erschütterungen, die das Boot zum Beben brachten, begann der Zweitaktdiesel zu arbeiten. Lucille hatte schon Position hinter dem Lenkrad bezogen, das links der Türe zum Deckshaus an der Wand befestigt war und damit ihren Anspruch dokumentiert, das Kommando zu übernehmen. Von Steele hatte sie keine Konkurrenz zu befürchten, der war damit beschäftigt, seine Ausrüstung endgültig zu präparieren. Und Tony war froh, dass er sich erst einmal um sein eigenes Wohlergehen kümmern konnte.
»Ich wusste gar nicht, dass du mit Motorbooten umgehen kannst«, sagte er zu Lucille.
»Wie schön, dass ich wenigstens noch ein Geheimnis hatte.«
Damit zog Lucille den Gashebel in die Maximalposition. Der Motor schluckte auf und verfiel dann in ein hastiges Knattern. Am Heck sprudelte das Wasser, als Lucille den Kupplungshebel auf Vorwärtsfahrt stellte. Am Ufer, vor dem Wellblechschuppen, standen die Mitglieder von Globo No und schauten zu, wie ihr Boot Fahrt aufnahm, den Bug in aufspritzende Wellen stieß und dann, mit dem Milchbart einer kleinen Bugwelle unter der Spitznase, hinter einem Waldstück außer Sicht geriet.
Außer einem Kompass und drei Motoranzeigen gab es keine Instrumente. Sie waren auch nicht nötig, denn die Strecke, die sie zurücklegen mussten, war kurz, und trotz des Dunstes war die Küste immer deutlich in allen Einzelheiten zu erkennen.
Lucille hielt das Steuerrad und konnte spüren, wie sich der Druck der Wellen auf das Ruder bis in die Holzgriffe unter ihren Händen fortsetzte. Das Steuerrad war ein neckisches Ding, eine ziemlich pompöse Edelholz-Miniaturausgabe der großen Räder, mit denen Segelschiffen gesteuert wurden. Irgendwo hatte Lucille mal ein ähnliches Ding an einer Wohnzimmerwand gesehen, mit einem Barometer in der Nabe. Es war ihr fürchterlich kitschig vorgekommen.
Sie lehnte die Hüfte gegen die Reling und drehte das Boot ein wenig, damit der Wind ihr nicht mehr den hellblauen Auspuffqualm entgegenblies.
Es machte ihr Freude, wieder so ein kleines Boot unter den Sohlen zu spüren. Zugleich spürte Lucille einen Stachel im Herzen. Erinnerungen drängten sich heran – schöne Erinnerungen an heiße Sommer unter blauem Himmel, an weiße Boote, die ihre gischtigen Kiellinien in das tiefe Blau des Meeres ritzen. Eine senkrechte Falte kerbte sich in die Mundwinkel Lucilles. Es war nicht schlimm, dass sich die Dinge ändern. Aber sie sollten es auf eine andere Art tun und sie sollten nicht diesen bitteren Geschmack hinterlassen …

Eine Welle erwischte die Mare nostrum von der Seite. Das Boot rollte, Wasser strömte über die Reling, Steeles Taucherflaschen kamen ins Rutschen und krachten gegen das Holz. Für einen Augenblick war Steele zu einem skurrilen Seemannstanz gezwungen, um seine Knöchel vor der rutschenden Ausrüstung in Sicherheit zu bringen.
Tony schaute an seiner triefnassen Hose hinunter. »Gibt Seewasser Flecken?«
»Du kannst ja gleich ganz ins Wasser springen, dann hast du wenigstens eine einheitliche Färbung«, schlug Lucille vor. Der Bug rammte sich durch eine Folge von steilen Wellen, eine Schale von grauem Wasser hob sich auf beiden Seiten, Gischt explodierte in einer weißen Wolke, flog über das Boot und pladderte wie ein Wolkenbruch auf das Deck. Für einen Moment wurde das Boot wie von einem Hammerschlag zurückgetrieben, der Motor begann zu stocken, hustete schwarzen Qualm, bis er wieder seinen vorherigen Takt aufnahm.
Lucille war die einzige, die auf den Beinen geblieben war. Steele und Tony erhoben sich triefend aus einer Brühe, die jetzt durch schmale Gatte ablief.
»Strömung und Wind gegeneinander, da werden die Wellen hoch und die Fahrt sportlich«, erklärte Lucille, ohne beim Anblick der nassen Passagiere ihren Sarkasmus zu verbergen.
»So viele kluge Dinge weiß diese Frau«, giftete Tony Tanner, »da weiß sie doch sicherlich auch, wie ich meine Klamotten wieder trocken bekomme.«
Statt einer Antwort wirbelte Lucille das Steuer herum und nahm direkten Kurs auf das Ziel. Vor ihnen lag, wie mit dem Messer gezogen, die Trennlinie zwischen aufgewühltem Wasser und der stilleren Oberfläche der geschützten Bucht. Kaum war diese Grenze passiert, tuckerte die Mare nostrum vor einem schnurgeraden Kielwasser daher und sandte elegant gekurvte Bugwellen zu beiden Seiten als würde sie Flügel entfalten.
Steuerbords lag eine bewaldete Landzunge. Zur Backbordseite verlor sich der Blick im grauen Dunst. Der Felssporn, der sich schützend vor die Bucht von Loreta schob, war nicht zu erkennen. Auch das nahe Ufer, gerade einmal zweihundert Meter entfernt, war als dunklere Färbung nur zu erahnen, aber nicht sicher zu erkennen.
»Wenn man selbst hier oben kaum was erkennt, dann wird es unter Wasser nur dunkel sein«, sagte Tony. Was er damit ausdrücken wollte, war nur eines: Notfalls wird auch im Dunklen gesehen, und wenn man nichts sehen kann, ist fühlen auch keine Schande.
»Wenn es mir im Dunkeln unheimlich wird, pfeife ich ein bisschen, dann geht’s wieder«, antwortete Steele. Dann nickte er Lucille zu. Der Motor erstarb. In der plötzlichen Stille klatschte das Wasser vernehmlich gegen den Rumpf, als das Boot nun auslief und sich träge in den Wind drehte. Lucille ging zum Bug und wuchtete den kleinen Treibanker über die Reling. Dann wurde das Stahlseil mit zwei Tauchflaschen ins Wasser gelassen. Die unteren Flaschen sollten bei 50 Metern auf dem Grund zu liegen kommen, die obere hing in 10 Meter Tiefe am Seil. Zur Markierung hatten beide Flaschen ein Signalgerät, das in kurzen Abständen blendend helle Lichtblitze abgab.
Tony war nicht überzeugt von dem System.
»Das ist das geringste Problem«, gab ihm Steele zur Antwort. »Ich gehe direkt am Seil runter und stelle dann den Navigations-Computer ein. Der führt mich zur unteren Flasche zurück.«
»Theoretisch.«
»Auch praktisch. Kleine Abweichungen durch Strömung und so gibt es immer. Aber auf kurze Distanz sind die Lichtblitze auch gut sichtbar. Alsdann – halt, da gibt es noch eine Sache.«
Steele öffnete eine Tasche, die er seit dem Hotel mitgeschleppt hatte. Sie enthielt einen Satz trockener Kleidung und Tücher zum Abtrocknen. Steele riss den Klettverschluss einer inneren Seitentasche auf und hielt sie so, dass Tony den Inhalt erkennen konnte. Zwischen den Sachen schimmerte matt der Griff einer Pistole.
»Für den Fall der Fälle.« Mit einem Griff lud Steele durch, prüfte die Stellung des Sicherungshebels und legte die Waffe dann vorsichtig zurück in die Tasche, wo sie im Flausch eines hellblauen Frotteehandtuches äußerst deplatziert wirkte.
»Sicherungshebel zurück und abdrücken, mehr ist nicht nötig. Das Magazin fasst dreißig Schuss, es löst sich automatisch, wenn der letzte Schuss aus der Kammer gegangen ist. Wenn es klemmt, ist hinten am Griff ein Druckknopf. Dann muss man nur das Nächste reindrücken, bis es klickt, dann ist es arretiert und dann einmal durchladen und man kann schießen. Zwei Ersatzmagazine sind in der Tasche. Macht neunzig Schuss. Alles klar?«
Tony nickte.
Die Selbstverständlichkeit, mit der Steele ihm eine Waffe erklärte, erinnerte Tony an seine wirkliche Situation. Er erhob sich aus der Hocke und schaute sich um. Seine Kleidung war bis auf die letzte Faser nass, in dem stoßweisen Wind begann er zu frösteln. Das Boot wiegte sich sanft auf dem Wasser. Der Dunst umgab sie wie eine Glocke.
Ohne ein weiteres Wort prüfte Steele sein Atemgerät und seine Maske, zog noch einige Gurte straff und ließ sich vom Heck ins Wasser fallen. Die Mare nostrum geriet ins Schwanken, Tony musste sich festhalten.
Noch einmal tauchten Steeles Schwimmflossen auf, dann markierten nur noch einige Luftblasen den Ort seines Abstiegs in die Tiefe.
Eine Weile herrschte Schweigen. Vom Ufer tönte das Geräusch fahrender Lastwagen. Lucille starrte mit verschränkten Armen in die Weite, Tony Tanner stand am Heck und schaute auf die Stelle, an der Steele verschwunden war. Das Drahtseil mit den beiden Luftflaschen spannte sich, Tropfen wurden in das Wasser geschleudert, dann bewegte sich die Mare Nostrum ein wenig und das Seil hing im nächsten Moment schlaff vom Heck herab.
Lucille setzte sich auf das Deckshaus und zog die Knie ans Kinn.
»Jetzt ein bisschen Sonne statt dieser grauen Pampe, ein eleganteres Boot und eine Bucht bei Nizza – dann ließe es sich aushalten.«
»Du solltest deine Wünsche vielleicht ein wenig reduzieren«, antwortete Tony.
Lucille blickte ihn über die Schulter an. »Wieso reduzieren? Das war die Mindestanforderung.«
»Dann, fürchte ich, bist du am falschen Ort.«
»Nicht ganz. Er hat auch seine kleinen Reize.«
Damit schwang sich Lucille vom Deckshaus herab und stand direkt neben Tony.
»Wieso eigentlich klein«, fragte Tony beleidigt.
Lucilles Arm schlang sich um seinen Nacken. Mit der freien Hand zupfte sie an seinem nassen Hemd.
»Weil dieses feuchte Textil so was von ähbääh ist. Das gibt Punktabzug.«
»Ich bin gerne bereit, was für meine Punktewertung zu tun.«
»Ein löblicher Einsatzwillen, wir werden das in die Bewertung einbeziehen.«
Damit beendete Lucille das Gespräch, weil sie ihre Lippen auf Tonys Mund presste.
Im nächsten Moment wurde sie von Tony auf das Deck gerissen, er drückte sie fest auf die Planken und warf sich mit vollem Gewicht auf sie.
»Eine halbe Minute Vorspiel hätte ich doch ganz gerne gehabt«, klagte eine enttäuschte Lucille.

Fortsetzung folgt …